Tunnelblick bei Bildung und Demografie?
Ich bin gestern auf zwei interessante Projekte im Internet gestoßen, die sich beide mit der demografischen Situation in Deutschland befassen. Einmal ein Projekt der Bertelsmann Stiftung und – im Zusammenhang damit – ein Projekt und eine Studie der Bundesregierung.
Was mir bei der Thematik immer wieder auffällt ist:
1. Es wird richtig erkannt, dass wir mit Geburtenrückgang zu „kämpfen“ haben und die Gesellschaft altert.
2. Es wird festgestellt, dass in Deutschland die Arbeitsbedingungen und die Möglichkeiten, die Eltern für Kinderbetreuung geboten werden, zu schwierig und unattraktiv sind, um die Situation zu ändern.
4. Es wird von den wenigsten noch bestritten, dass unser Schulsystem hochselektiv ist, wir von echter Bildungs-Chancengleichheit weit entfernt sind und ein beängstigend hoher Anteil an Kindern und Jugendlichen (von den wenigen die wir noch haben…) ohne qualifizierten Abschluß und somit ohne Chance auf ein erfülltes Erwerbsleben dasteht oder dastehen wird.
3. Es wird von Politik und Wirtschaft geklagt, dass wir zuwenig qualifizierte und hochqualifizierte Arbeitskräfte haben.
ABER: Ich habe den Eindruck, dass diese Punkte irgendwie immer als voneinander unabhängig betrachtet werden und man für jedes Problemfeld separate Lösungen sucht, die aber nicht anschlagen (können), wenn nicht die anderen Punkte auch berücksichtigt werden.
Und ein ganz wesentlicher Aspekt wird meines Erachtens nach immer komplett außen vor gelassen:
- Selbst wenn sich heute alle gebärfähigen Frauen entscheiden würden, wieder drei Kinder zu bekommen und
- selbst wenn für diese Frauen alle Möglichkeiten, dennoch erwerbstätig sein zu dürfen und zu können gegeben wären
- und für die Kinder dann ein besseres Schulsystem und gerechtere Chancen da wären,
hätten wir doch immer noch folgende Probleme:
- Jetzt fehlen qualifizierte Arbeitskräfte
- Jetzt gibt es viele Erwerbstätige oder Suchende in der Altersgruppe 30-50, die mit ihrem derzeitigen (Aus-)Bildungsstand hochgefährdet sind in die Erwerbslosigkeit abzurutschen oder bereits drin sind – ohne Perspektive wieder rauszukommen
- Jetzt gibt es eine enorme Anzahl an Menschen, die resigniert haben und somit zu den „bildungsfernen“ Milieus werden, in denen jetzt Kinder aufwachsen die ebenfalls resignieren und nicht mehr an Chancen durch Bildung glauben.
Deshalb müßte doch das Pferd anders herum aufgezäumt werden.
Natürlich brauchen wir für Kinder ein besseres und gerechteres Bildungssystem. Und natürlich brauchen wir eine Gesellschaft und eine Definition von Arbeit, die es wieder attraktiv macht, Kindern zu haben. Und zwar nicht, um selbst versorgt zu sein – sondern weil man wieder daran glauben kann, dass diese Kinder eine glückliche und erfüllte Zukunft haben können. Und das, ohne dabei als Frau die eigene Gegenwart und das eigene Weiterkommen abschreiben zu müssen.
Dazu muss aber jetzt etwas geändert – da wo es jetzt brennt und da wo jetzt Potential liegt.
Und das ist genau die oben erwähnte Gruppe der 30-50 Jährigen mit prekärem (Aus-) Bildungsstand. Diese Menschen müssen motiviert werden, nicht zu resignieren sondern aktiv an ihrer Zukunft und an der ihrer Kinder etwas zu ändern. Indem sie Schulabschlüsse nachholen, Studiengänge abschließen, lernen wieder zu lernen und neue Perspektiven und Ziele bekommen.
Und ja, natürlich lohnen sich diese Investitionen noch!!! Denn erstens haben wir ja festgestellt, dass wir dringend hochqualifizierte Menschen brauchen – und in diesen Tätigkeiten arbeitet man doch auch motiviert und gerne und wird in den seltensten Fällen mit 60 oder 65 beschließen, nun nur noch den Garten zu bestellen und „einen auf Rentner zu machen“. Jemand der mit 50 sogar 55 sein Studium beendet kann gut und gerne noch 10-20 Jahre lang motiviert und erfüllt und sinnvoll etwas leisten: Für sich und für die Gesellschaft.
Und man würde zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Kinder der so motivierten und geförderten Menschen würden doch ebenfalls wieder motiviert, zu lernen und in Bildung und Schule einen Sinn zu sehen. Sie würden angespornt, es sich leichter zu machen als ihre Eltern, sie hätten Vorbilder, mit denen sie gemeinsam lernen könnten, anstatt täglich Resignation und Sinnlosigkeit von Bemühungen erleben zu müssen.
Damit würden mit einem Schlag aus zwei Risikogruppen, die ständig Gefahr laufen in die Randständigkeit und ein neues Prekariat abzudriften zwei Gruppen mit enormen Potential an den jetzigen Mißständen etwas zu ändern und für künftige Generationen echte Chancen und Motivationen aufzubauen.
Hier könnte man jetzt und heute etwas ändern. Etwas das Wellen schlägt und enorme Auswirkungen haben kann.
- Dazu ist eine neue Definition von Arbeit nötig.
- Dazu muss Weiterbildung auf gesellschaftliche Akzeptanz stoßen.
- Schulausbildung und Studium muss fauch für die Menschen über 30 so unterstützt werden, dass sie finanziell in der Lage sind, ihre Familie und ihr Leben oder Einschränkungen und Mangel führen zu können.
Ich bin überzeugt davon, dass sehr viele Menschen das Potential dazu haben, ihnen aber das Selbstbewußtsein, der Mut und oft schlichtweg die finanzielle Möglichkeit fehlt.
Hier sind gesellschaftliche und politische Projekte gefordert, die über den Tellerrand der konventionellen Projekte hinausschauen und Neues wagen.
11 Kommentare
S O
Hm – auch und gerade die Marke 30 wäre zu überdenken. Vielleicht ist es auch hier an dieser Stelle angebracht von Menschen über 40 zu schreiben?
LG
Sabine
Sabine
mhm – wie meinst Du das jetzt? Die 40 Jährigen sind ja in der Gruppe auf die ich mich beziehe mit dabei?
Und mit 30 wird eben schon die Grenze gezogen, bei der man zum Beispiel bei einem Großteil der Stiftungen kein Stipendium mehr bekommt, Bafög nur noch in Ausnahmen, Schulabschlüsse bezahlt gar nicht mehr… etc. – daher kam ich auf 30, denn vorher ist es noch einfacher.
LG Sabine
Achim
1,5 Millionen Jugendliche zwischen 20 und 29 Jahren sind ohne Berufsabschluss (das sind knapp 15 % dieser Altersgruppe) (DGB 28.5.2009). Diese sind hier nicht berücksichtigt. Woran erkennen wir eine differenzierte Betrachtung von Demographie und Bildung? Millionenschwere Programme beschäftigen sich mit Demographie, der Erforschung der Konsequenzen, der Beratung und dem Erkennen der Auswirkungen sowie präventiven Programmen diesen Auswirkungen vorzubeugen (Länder/Bund/Kommunen). Gleichzeitig wird fast jede im Moment gefördertes Modellprojekt, wie auch faktisch jede „einfachste Maßnahme“ vom „Amt“ damit begründet, dem jetzigen Facharbeitermangel beizukommen. Es führt zu weit wenn ich hier Aufzählungen mache, aber bitte schaut mal beim http://www.kibb.de, beim bmbf wie auch beim Ministerium f. Arbeit Sozi. NRW mags. DIe Konzepte all dieser Programme begründen Antragssteller mit dem Kampf gegen den Fachkräftemangel. Die individuelle Förderung einzelner kommt dann noch ins Spiel und es ist prima, wenn die Programme das hergeben. Ich versuche mal eine Schwerpunkt förderlandkarte für Deutschland zu erstellen. Alles was modulare Nachquali, Ausbildungsbausteine, 3ter Weg, WIA u.s.w. durchführt ist das aktuelle reagieren auf einen jetzigen Mangel.
Jedoch die Realitäten bei der Motivation der o.g. Zielgruppe, wie auch der anderen Gruppen liegen weit entfernt. „Der Kanpf um das lebenslange Lernen“ von Baethge/Kinsey zeigt diese auf.
Ich persönlich empfinde alles was du schreibst richtig und sachlich und vernünftig nachvollziehbar und wünschenswert. zu 100 %. Leider funktionieren Menschen nicht nur so. Daher wird nur ein Teil so erreicht werden.
Zahlen über alle Aufwendungen in Deutschland finden sich hier http://datenreport.bibb.de/html/26.htm
Hier brauchen wir nur alle raussuchen, die sich im besprochenen Altersbereich befinden und thematisch passen.
Übrigens ein toller Blog.
Einen Gruß
Achim
S O
…. nur der Effekt – das ich irgendwie die 30 immer bewusster wahrgenommen habe als die Spanne. Mag sehr subjektiv sein und vor allem war der Kommentar sehr verkürzt. Sorry.
„Schulausbildung und Studium muss fauch für die Menschen über 30 so unterstützt werden, dass sie finanziell in der Lage sind, ihre Familie und ihr Leben oder Einschränkungen und Mangel führen zu können.“
Dieser Satz war am Ende hängengeblieben.
LG
Sabine
Sabine
@Achim,
vielen Dank für Deinen Kommetar zu Blog und Artikel! Vor allem auch für den Link zum Datenreport – ich werde dort recherchieren und die Ergebnisse hier einstellen.
Ich wollte auch vor allem ausdrücken, dass ein Großteil der Maßnahmen (so empfinde ich es – wird auch recherchiert werden) eben nur die Symptome bekämpft und nicht die Ursachen. Wenn mehr Menschen des von mir genannten Personenkreises wieder motiviert würden zu lernen, dann ginge es an die Wurzeln und würde zu bildungsnähereren Milieus führen.
Das funktioniert aber (wieder meine Ansicht) nicht mit hochspezifischen Weiterqualifizierungsmaßnahmen sondern nur mit Lernen lernen und Freude vermitteln an Bildung und Wissen.
@ Sabine: Verstehe 😉
Achim
Hallo Sabine,
ich denke, du hast da sicher recht mit lernen lernen und dem vermitteln der Freude am Lernen. Mit Sicherheit. Achte bei deiner Recherche auf die Programme, nicht auf die einzelnen Maßnahmen. Das war evtl. etwas mißverständlich ausgedrückt. Innerhalb der Programmlinien kann man seine Ideen verwirklichen. Das einzigste ist, dass der Bezahler ein messbares Ergebnis bekommt. Es gibt aber auch welche, in denen nur indirekt messbares am Start ist. Das sind eben die Modellprogrammlinien (siehe z.B. Jobstarter Connect), die „probieren“, evaluieren und daruas Schlüsse ziehen. Diese Programmreihe geht eben in die Idee, Organisationsstrukturen zu verändern und darüber lernen atttraktiver zu machen. Weiterbildungen nutzt man hier nur als „Transporter“, denn selbst wenn man nur lernen lernt, lernt man und bildet sich weiter.
Ich bin mal gespannt, was deine Recherchen ergeben. Solltest du Datenwünsche haben, die du nicht findest helfe ich gerne mit diese zu besorgen.
Viele Grüße
Achim
Achim
Noch einige interessante für Prävention und umgang
http://www.inqa.de/Inqa/Navigation/Themen/demographischer-wandel.html
http://www.demographie-lotsen.de/
http://www.iaw.rwth-aachen.de/
Sabine
Ganz herzlichen Dank – und bitte (an alle) ein bisschen Geduld bezügliche Rechercheergebnissen. Ich will da nicht „schludern“ und hänge im Moment „neben“ Communityaufbau auch in den Klausurvorbereitungen zu zwei Modulen 🙂 – wobei die Reihenfolge eher umgekehrt sein sollte *grins* – aber ich bleib am Ball.
Und vielleicht hat ja jemand von Euch schon Lust und Zeit auch zu recherchieren? Wäre super!
mihei
Ich habe mir jetzt bewusst den Punkt 4 rausgegriffen, denke aber das meine Aussagen auch für die anderen Punkte gelten.
Unser Bildungssystem ist hochselektiv was ich aber nicht unbedingt als Nachteil empfinde. Wenn man von einem hochselektiven Bildungssystem spricht muss man auch erwähnen, dass es in alle Richtungen durchlässig ist und immer die Chance besteht in „höhere Ebenen“ aufzusteigen.
Wir brauchen mehr Wissenschaftler, Ingenieure und Architekten. Wir brauchen aber auch diejenigen, die deren Erkenntnisse in die Praxis umsetzen. Was nutzt der beste Architekt wenn er keine Handwerker hat, die seine Entwürfe umsetzen können?
Was wir brauchen ist ein Bildungssystem, dass die unterschiedlich vorhandenen Potentiale möglichst optimal nutzt. Um es plakativ zu formulieren, aus einem Deppen kann man keinen Akademiker machen. Ziel muss es sein, selektiv die unterschiedlichen Fähigkeiten zu erkennen und entsprechend zu fördern. Die „Guten“ sollen nicht unterfordert und die „Schlechten“ nicht überfordert werden.
Chancengleichheit wird oft mit Gleichmacherei verwechselt. Es gibt nun mal unterschiedlich intelligente Menschen und die intelligenteren haben von Beginn an bessere Chancen auf einen guten Abschluss und die weniger intelligenten müssen von Anfang an um einen Abschluss bangen. Diese Tatsache muss man akzeptieren und das Bildungssystem daran ausrichten. Das Ziel muss eine Chancenoptimierung sein, d.h. die individuellen Fähigkeiten müssen optimal genutzt werden. Um es an einem Bild festzumachen. Wenn man einen Rohdiamanten nicht richtig bearbeitet, dann verliert er an Wert bzw. kann man mit ihm nicht den optimal möglichen Wert erzielen. Ebenso kann man aus einem Rubin keinen Diamanten machen, auf diese Idee würde auch kaum jemand kommen. Was machen wir in unserem Bildungssytem? Wir werfen Diamanten, Rubine und nicht Edelsteine in einen Topf behandeln sie alle gleich und am Ende wundern wir uns wieso der Diamant nichts wert ist und die nicht Edelsteine nicht zu Diamanten wurden. Wir selektieren also nicht genug und dies führt zu Über- bzw. Unterforderung. Deshalb brauchen wir eine stärkere Selektierung (entscheidend ist die Frage in welchem Alter dies sinnvoll ist), eine deutliche Ausrichtung auf das Individuum und eine daran ausgerichtete individuelle Förderung. Wir brauchen die Hochbegabtenschule ebenso wie die Förderschule. Für solch eine selektive Förderung brauchen wir kleinere Klassenmesszahlen. Klassenstärken von 25 oder sogar 30 Schülern sind viel zu groß. Wir brauchen kleinere Klassen und mehr Lehrer. Das bedeutet natürlich auch mehr Kosten, wobei man bei Bildung eigentlich von Investitionen und nicht von Kosten sprechen muss.
Für diese Forderungen stellt die demografische Entwicklung auch eine Chance dar. Wenn es immer weniger Neugeburten und somit weniger Schüler geben wird (was man als wahrscheinliche Entwicklung kaum anzweifeln kann) dann darf man darauf nicht mit der Reduzierung von Lehrern reagieren. Es gibt also Hoffnung, dass zukünftige Schülergenerationen eine bessere weil individuellere Förderung erfahren können.
Um nochmals zu den Edelsteinen zu kommen. Je mehr Diamanten es gibt um so weniger sind sie Wert.
Thomas Lutzeier
Hallo Sabine,
„Und das ist genau die oben erwähnte Gruppe der 30-50 Jährigen mit prekärem (Aus-) Bildungsstand.“ – das stand in deinem Blogbeitrag. Ich habe auch so meine Zweifel am Bildungsstand der „reiferen“ Bevölkerung – und halte das für eine sehr schlechte Entwicklung – angesichts des bevorstehenden Fachkräftemangels!
Ich suche nach Quellen/Belegen für den von die erwähnten prekären Bildungsstand. Kennst du Quellen dafür ?
Herzliche Grüsse aus Fürstenfeldbruck, Thomas Lutzeier
Sabine
Hallo Thomas,
eigentlich wollte ich damit ausdrücken, dass bei den Personen wo der (Aus)Bildungsstand in dem Alter prekär ist, ein großes Potential sitzt, dies durch Nachholen von Schulabschlüssen und Studiengängen zu ändern.
Aber auch Deine Leseweise, dass es in dieser Bevölkerungsgruppe einen großen Personenkreis gibt, auf den das zutrifft, ist sicher richtig. Ich denke mal, dass zum Beispiel Arbeitsamtstatistiken ein guter Ansatz sind, die ja zumindest den Schulabschluss der Arbeitslosen mit einbeziehen und ausweisen.
Auch vom DIE gibt es etliche Studien und Bücher zum Weiterbildungsverhalten, wo auch hinsichtlich Alter und Bildungsstand analysiert wird. Ich habe im vorletzten Semester eine Semesterarbeit dazu geschrieben: http://www.xinxii.com/zusammenhaenge-zwischen-schulabschluss-alter-und-lebenslangem-lernen-p-318056.html – ich kann gerne nochmal in meiner Literaturliste schaun, auf welche Quellen ich da zugegriffen habe, wenn Dir das weiterhilft.
Ansonsten steht Recherche zu dem Thema auch ganz oben auf meiner To-Do Liste für die Community, ich halte Dich gerne auf dem laufenden. Und wenn Du früher fündig wirst, ich würde mich über Nachricht dazu hier in der Community freuen!
Viele Grüße aus München
Sabine