Fernlernen und Social Media als Möglichkeiten, soziale Barrieren zu reduzieren
Jeder von uns erwachsenen Lernenden kann sich zweifellos an die Zeit erinnern, in der die Entscheidung für den zweiten Bildungsweg oder ein Studium getroffen wurde. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass so gut wie niemand darunter ist, der in dieser Zeit nicht auch mit starken Zweifeln an seinen Kompetenzen für diesen Schritt belastet war.
Ein Teil dieser Zweifel ist rein rational. Die Frage ob es klappen wird, an so altes Schulwissen wieder anzuknüpfen, ob man nach vielen Jahren oft rein praktischer Tätigkeiten wieder in Theorien und Lernen hineinfindet, ob man die Disziplin und das Durchhaltevermögen aufbringt und ob sich weitere Rollen in Beruf und Privatleben mit einem so langfristigen und zeitintensiven Projekt verbinden lassen.
Diese Zweifel sind verständlich, berechtigt und lassen sich – ein bisschen Mut und Engagement vorausgesetzt – relativ leicht auf Relevanz überprüfen und in den meisten Fällen wohl auch überwinden.
Gravierender sind Zweifel einer anderen Art – Zweifel die auf einer eher unterbewußten Schicht ablaufen und von daher viel schwerer zu beseitigen sind. Hier handelt es sich um Unsicherheiten, die sich jahrzehnte lang über Erziehung, Familie, soziales Umfeld und bisherigen Erfahrungen eingeprägt haben. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat diesen Aspekt unter dem Begriff Habitus bekannt gemacht und erforscht. Einen ganz wichtigen Anteil haben hier Angewohnheit, die »inkorporiert« wurden, also so sehr zu einem Teil von uns geworden sind, dass wir uns ihrer oft gar nicht bewußt sind. Sie sind insoweit körperlich, als sie z. B. über Gesten, Sprache (Hochsprache oder Dialekt), Kleidung und Verhalten erkennbar sind – erkennbar für andere und anhand deren Reaktionen dann auch für uns selber.
Je älter man ist, desto mehr Zeit hatten solche Einflüsse, sich einzuprägen und Teil unserer Selbst zu werden – das ist eine banale und logische Rechnung. Ein Erwachsener, der sich entschließt wieder »die Schulbank zu drücken« muss also nicht nur wieder lernen zu lernen und den kognitiven Aspekt dieser neuen Aufgaben bewältigen, sondern muss dabei auch konkrete Barrieren aus (oft unbewußten und daher umso schwerwiegenderen) Vorurteilen überwinden. Bei anderen und nicht zuletzt auch bei sich selbst.
Hier sehe ich nun einen ganz enormen Vorteil in den Möglichkeiten, Schulabschlüsse und Studiengänge per Fernstudium zu absolvieren. Und damit möchte ich nicht befürworten oder auch nur andeuten, dass ein Fernstudium fernab und ohne reale Kontakte ablaufen würde. Aber die oben genannten Unsicherheiten wiegen am schwersten zu Beginn eines solchen »Unternehmens«. Die Überwindung, sich in der Uni unter meist viel jüngeren Menschen zu bewegen. Die Angst, sich erstmals zu Wort zu melden und sich mit »dummen« Fragen zu blamieren, oder, schlimmer noch, sich zu verhaspeln, mit zittriger Stimme die eigene Unsicherheit kundzutun. Die banale Frage »Was ziehe ich an«. Die Scham, sich aus finanziellen Gründen am anschließenden Kaffeehaus- oder Kinobesuch nicht beteiligen zu können. Die Barrieren sind so vielfältig und gravierend, dass sie nicht selten der überwiegende Grund dafür sind, es gar nicht erst zu versuchen. Und damit die Wirksamkeit solcher Unsicherheiten verstärken – irgendwann kommt schon der Gedanke daran gar nicht mehr auf.
Beim Fernlernen ist genau dieser Einstieg nun aber ganz anders. Bei den meisten Kursen gibt es Foren und Communities zum Austausch und gemeinsamen Lernen. Viele der befürchteten »dummen Fragen« wurden schon gestellt und die Antworten sind als FAQs gesammelt und zu bekommen, ohne selber eine Frage stellen zu müssen. Dadurch ist die Hemmschwelle »einzutreten« viel niedriger. Man kann erstmal mitlesen und »zuhören«, ohne sich den Schuh »guck mal, der bekommt ja den Mund nicht auf« anziehen zu müssen. Wenn man sich beteiligt, kann man vorformulieren, prüfen und korrigieren, bevor man einen Beitrag öffentlich macht: Kein Verhaspeln, kein Rotwerden oder Stottern. Niemand sieht, ob man im Designeroutfit oder im Trainingsanzug vor dem PC sitzt. Keine Gefahr, zu gemeinsamen Unternehmungen, die man sich nicht leisten kann, aufgefordert zu werden.
Und durch diesen leichteren Einstieg hat man die große Chance, sich auf die Beiseitung der einstiegs genannten echten Zweifel zu konzentrieren. Erfolgserlebnisse zu sammeln, in Ruhe zu erleben, dass Lernen noch funktioniert. Mit Zeitfenstern ausprobieren wie und ob sich Lernen und weitere Rollen vereinbaren lassen.
Irgendwann gibt es dann – zum Glück – auch hier »echte« Kontakte. Vielleicht reale Lerngruppen oder Präsenzseminare. Vielleicht Lifechats und virtuelle Klassenzimmer mit Cam und Microfon. Zu diesem Zeitpunkt können aber erste positive Lernerfahrungen schon zu einem gesteigerten Selbstbewußtsein geführt haben und die eigenen Vorurteile weniger schwer wiegen. Und die unbewußt anhand solcher Äußerlichkeiten vorgenommenen Einstufungen seitens der Anderern können auch ganz anders und viel objektiver ausfallen, wenn es eben keine »ersten Eindrücke« mehr sind, sondern nur Komponenten, die das Bild eines Gegenübers erweitern, das man schon online kennen- und vielleicht schätzen gelernt hat.
In den Möglichkeiten, die Web 2.0 und Social Media hierfür bieten, sehe ich enorme Chancen für eine breitere Beteiligung am Zweiten und Dritten Bildungsweg. Aber auch eine große Aufgabe für Politik, Pädagogik und Bildungswissenschaft, sich sozialer Komponenten bewußt zu sein und auch ein hohes Maß an Medienkompetenz zu besitzen und vermitteln zu können.
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